Blutende Herzen – Es durfte nicht sein

Vor vielen Jahrhunderten, in einer Zeit, die der unseren so
fern ist, gab es einst eine Burg. Sie trug den klangvollen
Namen Burg Waldesruh, denn sie lag tief verborgen zwischen
rauschenden Wäldern und grünen Hügeln. Ihre trutzigen
Wehrtürme ragten in den Himmel und von ihren Zinnen wehten
die Fahnen im Wind und zeigten weithin sichtbar das Wappen
ihrer adeligen Bewohner. Das Geschlecht derer von Waldesruh
war alteingesessen und der Graf von Waldesruh nannte weite
Ländereien sein Eigen, die von zahlreichen Rittern, welche
ihm die Treue geschworen hatten, als Lehen verwaltet und
bewirtschaftet wurden. Keiner musste hier darben. Doch der
Graf von Waldesruh selbst war ein einsamer Mann, der an
Familie auf der Burg nur mehr sein einziges Kind, seine
Tochter Dietlinde, bei sich hatte. Ihre Mutter, die Gräfin
Konstanzia von Waldesruh, war kurz nach der Geburt
Dietlindes vom Kindbettfieber dahingerafft worden. Vor
Trauer um seine geliebte Gattin drohte der Graf beinahe dem
Wahnsinn zu verfallen und verweigerte sich einer weiteren
Ehe, welche ihm einen Stammhalter hätte schenken können.
Alldieweil der Graf von Waldesruh sich durch die
gewaltsame Erweiterung seiner Ländereien von seinem Schmerz
und seiner Einsamkeit abzulenken suchte, wuchs seine
Tochter Dietlinde zu einer jungen Frau heran. Land auf,
Land ab besangen die Barden ihren Liebreiz und es kam die
Zeit, da der Graf daran zu denken begann, seine Tochter zu
verheiraten. Obschon er selbst mit seiner Gattin Konstanzia
das Glück einer Liebesheirat hatte erfahren dürfen, sah er
für die Eheschließung Dietlindes die Liebe nicht als
hinreichenden Grund. Hierbei richtete der Graf sein
Hauptaugenmerk auf die Menge an Talern und Gulden, welche
der zukünftige Ehegatte Dietlindes der gräflichen
Schatzkammer beizusteuern vermochte. Denn die vielen Kriege
des Grafen von Waldesruh hatten ihm zwar auch viele
Ländereien beschert, jedoch auch ein Loch in seinen
Geldbeutel gerissen, welches dringlichst gestopft werden
wollte.
An Verehrern mangelte es Dietlinde freilich nicht.
Schon viele hatten ihrem Vater die Aufwartung gemacht und
um die Hand seiner bildschönen Tochter mit dem zarten
Gesichtchen und dem langen, kastanienfarbenen Haar
angehalten. Doch keiner war jemals auch nur in die Nähe
Dietlindes gelangt. Diese lebte wohlbehütet, abgeschirmt
von der Welt jenseits der Burgmauern und verbrachte ihre
Tage mit dem Lustwandeln im Burggarten oder in ihren
Gemächern mit dem Besticken von Gewändern und
Wandteppichen. Kein Anwärter um Dietlindes Gunst war dem
Grafen von Waldesruh bislang als gut genug erschienen. Auch
wenn sich unter ihnen wohlverdingte Ritter seines Landes
befanden, hatte noch keiner das nötige Vermögen
aufzuweisen, welches sich der Graf für den Gatten seiner
einzigen Tochter ausbedungen hatte.
Doch es kam der Tag, an dem eine vielversprechende
Kunde an das Ohr des Grafen von Waldesruh drang: Der Graf
von Hinten, welcher über die weitläufigen angrenzenden
Ländereien herrschte, hatte seine Gattin an die
Schwindsucht verloren. Sie war bereits die dritte Frau
gewesen, die er zu Grabe hatte tragen müssen, ohne dass
diese ihm einen Stammhalter hatte gebären können. Doch der
Graf von Hinten war nicht mehr der Jüngste – die Zeit
drängte, wenn er den Fortbestand seines Geschlechts sichern
wollte. Die Herren der benachbarten Ländereien rückten
bereits näher und begannen auf sein Vermögen zu schielen,
wie kreisende Aasgeier es über einem Kadaver zu tun
pflegen. Gewiss, Graf von Waldesruh war sich wohl bewusst,
dass sein Vermögen nicht das Einzige war, worüber die
Menschen in Verbindung mit dem alten Grafen von Hinten
sprachen. Es war weithin bekannt, dass es sich bei dem
alten Grafen nicht nur um einen außerordentlich reichen,
sondern auch um einen außerordentlich hässlichen Mann
handelte. Ja, man mochte fast sagen, dass er ein
verabscheuungswürdiges Äußeres besaß: Von Kindesbeinen an
war er mit einem Buckel gestraft und ein Hautleiden sorgte
dafür, dass der Leib des Grafen von Hinten mit eitrigen
Furunkeln übersät war, die von Zeit zu Zeit aufbrachen.
Doch dem nicht genug: Der alte Graf pflegte einen
ausschweifenden Lebenswandel, aß zu viel und zechte
weidlich. Dies zollte seinen Tribut in Form einer
übergroßen Leibesfülle.
All dies stellte für den Grafen von Waldesruh jedoch
kein Hindernis in Bezug auf eine mögliche Eheschließung mit
seiner liebreizenden Tochter Dietlinde dar. Für ihn wogen
die übervollen Schatzkammern des Grafen von Hinten bei
Weitem sein Alter und sein furchtbares Äußeres auf. So
beschloss er, dem Grafen von Hinten die Hand seiner
einzigen Tochter Dietlinde anzutragen und teilte ihm dies
mitsamt einer Einladung zum alljährlichen Ritterturnier auf
Burg Waldesruh mit.