Ein folgenschwerer Streit

Lara lag allein im Bett und starrte in die Dunkelheit. Die Wut, die in ihr brodelte, hatte nichts an Intensität eingebüßt. Den eigentlichen Grund für den Ehestreit mit Markus wusste sie nicht mehr. Ihr war klar, dass sie ihm vermutlich Unrecht getan hatte. Es war die ganze Situation, die ihr zu schaffen machte. Der Umzug von München ins schweizerische Aarau – weg von Familie und Freunden, der Jobwechsel … Alles hier war so provinziell. Markus versuchte, sie von der Gegend zu überzeugen, indem er ständig erwähnte, wie schön er es hier finde und wie freundlich doch die Menschen seien. Das hier war sein Traum: Das Haus seiner verstorbenen Großeltern zu beziehen, eine Familie zu gründen und zusammen auf ewig glücklich zu sein. Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen?

Seufzend drehte sie sich um. Sie waren so ein gutes Team gewesen. Jetzt lag ihre Beziehung in Scherben, gerade einmal zwei Monate nach ihrer Ankunft hier.

Lara spitzte die Ohren.

War da nicht eben etwas gewesen? Ein Schaben, direkt über ihr? Doch abgesehen vom Dachboden war dort nichts. Sie wollte ihre Gedanken eben wieder auf ihren undankbaren Ehemann lenken, als ein lautes Rumpeln sie in die Aufrechte brachte. Das war keine Einbildung! Markus würde doch nicht mitten in der Nacht dort oben herumräumen? Wieder erklang ein Geräusch.

„Schritte!“, schoss es ihr durch den Kopf. Er musste es sein, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, was er dort mitten in der Nacht trieb. Mit klopfendem Herzen ließ sie sich zurück in ihr Kissen sinken. Vermutlich wollte Markus sie ärgern.

Sie ignorierte alle Laute und versuchte, endlich etwas Schlaf zu finden.

Als Lara am nächsten Morgen hinunter in die Küche ging, hatte Markus bereits Kaffee und Tee gekocht. Er schob ihr die Tasse Earl Grey über den Tresen. „Guten Morgen, Liebling“, begrüßte er sie betont freundlich.

Sie nahm sein Friedensangebot an, verzog aber keine Miene. „Das Koffein werde ich brauchen, nachdem du mich die halbe Nacht wachgehalten hast.“

„Hast du mich etwa so vermisst? Du wolltest ja, dass ich auf der Couch übernachte.“

Lara verdrehte die Augen. „Das meinte ich nicht! Es ging um deine Aktion auf dem Dachboden.“

Markus zog die Stirn in Falten. „Wovon redest du?“

In Laras Magengegend breitete sich ein flaues Gefühl aus, doch sie gab sich unbekümmert. „Jetzt tu nicht so! Etwa um halb eins ging es los mit Schritten und Poltern, direkt über mir.“

Ihr Mann blickte irritiert drein. „Ich weiß nicht, was du da gehört hast, aber ich war das sicher nicht.“ Er nippte an seinem Becher. „Vielleicht hat sich ja ein Marder bei uns eingenistet.“

„Ein Marder erzeugt keine Schritte und einmal hat es richtig gerumst.“ Lara merkte, wie sie erneut in Rage geriet. Sie war doch nicht so dumm, ein nicht einmal katzengroßes Tier mit einem Menschen zu verwechseln.

Markus trank aus und stellte die Tasse in die Spüle. „Ich versuche ja nur, eine Erklärung zu finden. Gleich nach der Arbeit gehe ich nach oben und schaue, was sich finden lässt.“

Natürlich fand er nichts. Das war es zumindest, was er Lara am Abend erzählte, als diese gerade auf dem altmodisch gemusterten Sofa saß, um zu lesen. Ein Großteil der Möbel war noch von Markus’ Großeltern. Dieser fand, das habe Charme. Seine Frau war anderer Meinung. Außerdem gab es nur einen winzigen Röhrenfernseher, der nur funktionierte, wenn man ihn besonders nett bat und selbst dann noch unangenehm rauschte. Noch so ein Punkt, der Lara störte und den Markus als halb so schlimm empfand. Schließlich könne man sich so mal ein bisschen unterhalten. Leider mündeten die meisten ihrer Gespräche im Streit, weswegen sie die Abende mit Schmökern verbrachte, während er sich der Technik widmete.

Auch heute setzte sich Markus in den Sessel und klappte den Laptop auf. Die Sonne war bereits untergegangen.

„Hier steht, dass in alten Häusern das Holz arbeitet, besonders wenn es zu Temperaturschwankungen kommt. Ich denke, das kann sich im Extremfall auch nach Schritten anhören.“

Lara sah von ihrem Krimi auf. „Das war weder ein Marder noch ein knarrender Balken, Markus!“

Er seufzte. „Schon gut, aber was denkst du, hat das Geräusch dann ausgelöst?“

„Keine Ahnung, vielleicht ja ein Einbrecher?“, schlug Lara vor und klappte das Buch zu.

Ihr Mann blickte sie über den Bildschirm hinweg zweifelnd an. „Ein Einbrecher, der nichts stielt und bloß auf dem Dachboden herumläuft?“

„Ich hab schon von Obdachlosen gehört, die in Häusern gelebt haben, ohne aufzufallen und sich nachts am Kühlschrank bedienten“, verteidigte sie sich.

„Ja“, gab Markus zu bedenken, „Aber dann hätte ich doch vorhin etwas sehen müssen. Irgendwelche Spuren, wenn nicht sogar die Person selbst.“

Lara wurde etwas mulmig zumute. Sie hatte jemanden gehört. Wenn es kein Mensch war, blieb nur noch etwas Übernatürliches. „Und wenn es hier spukt?“, fragte sie und konnte einen ängstlichen Unterton nicht unterdrücken.

„Nun werde bitte nicht paranoid“, erwiderte Markus etwas genervt, „Es gibt keine Geister.“

In diesem Moment nahm Lara eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Ruckartig drehte sie ihren Kopf in Richtung Küche, doch dort war nichts zu sehen. „Da ist jemand an der Tür vorbeigelaufen!“

Markus stand seufzend auf, ging einen Raum weiter und sah sich um. „Du machst dich mit dem Gerede über diesen Schwachsinn noch selbst verrückt“, bemerkte er dann.

Doch da sah sie den Schatten schon wieder. Diesmal erkannte sie deutlich eine Silhouette, welche die Treppen in den ersten Stock erklomm. Sie glaubte, einen Mann erkannt zu haben. „Da war er wieder!“, schrie sie und deutete zum Treppenaufgang hin. „Ich schwöre es dir, ich hab ihn gesehen. Er ist nach oben gegangen.“

In Markus’ Blick waren nach wie vor Zweifel zu lesen, doch die offensichtliche Angst seiner Frau schien ihn davon abzuhalten, diese zu äußern. Er lief durch die Küche in den Flur, von dem aus es eine Runde ins Wohnzimmer ging und stieg ebenfalls die Treppen hinauf.“

„Warte!“, rief Lara, legte das Buch weg und sprang ihm nach, „Lass mich nicht allein.“

Mit schweißnassen Händen griff sie nach seinem Arm.

„Mach dir keine Sorgen, ich bin ja da“, murmelte er beruhigend und strich sanft über ihre verkrampften Finger.

Vorsichtig arbeiteten sie sich die Stiege hinauf. Die Schlafzimmertür gegenüber der Treppe war geschlossen. Vorsichtig drückte Markus die Klinke hinunter, trat ein und betätigte den Lichtschalter. Sofort blieb er wie angewurzelt stehen. Alle Schubladen, Schränke und sogar die Klappen der Nachtkästchen waren sperrangelweit geöffnet.

„Warst du das?“, fragte er zögernd und Lara spürte, wie er sich anspannte.

Sie schüttelte den Kopf. „Wann hätte ich das denn tun sollen?“ Ihre Stimme klang ungewohnt schrill.

Sie ließ ihn los und Markus betrat den Raum, blickte hinter die Tür, unter das Bett und anschließend in die Schränke, bevor er alles in den Normalzustand brachte.

„War das auch ein Marder oder arbeitendes Holz?“, fragte Lara anklagend.

Markus sah sie ratlos an. „Nein, tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe.“ Er seufzte und legte seine Hände auf ihre Schultern. „Bleib du erstmal hier. Sperr das Zimmer von innen ab und lass nur mich rein. Ich werde das Haus von oben bis unten durchsuchen. Nur für den Fall, dass doch ein Einbrecher dahinter steckt.“

Lara nickte unsicher, dann verließ Markus den Raum. Unruhig lief sie auf und ab, nicht fähig sich zu beruhigen. So wütend sie vorhin noch auf ihren Mann gewesen war, so sehr sorgte sie sich jetzt um ihn. Die Minuten zogen sich wie Stunden. Erst nach einer halben Ewigkeit – vermutlich nicht viel länger als eine Viertelstunde – klopfte jemand.

Schnell drehte Lara den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf. Starr vor Schreck blickte sie in den leeren Flur. „Markus?“, fragte sie leise und sah sich vorsichtig um. Das Licht war an, niemand hätte sich hier verstecken können. Plötzlich fegte ein heftiger Windstoß von hinten an ihr vorbei. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Dumpfes Stöhnen hallte in ihrem Kopf wider. Sie wollte schreien, doch es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Die Handflächen auf die Ohren gepresst ging sie in die Hocke, den Mund weit aufgerissen. So saß sie da, bis sie schließlich von zwei Armen umfangen wurde.

„Alles ist gut Lara, ich bin hier“, redete Markus beruhigend auf sie ein. Erst jetzt merkte sie, dass nun doch ein schrilles Krächzen aus ihr herausgebrochen war. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie schluchzte hemmungslos.

Markus’ Berührung tat ihr gut, ebenso wie der Klang seiner Stimme. Sie saßen eine Weile auf dem Boden, dann hob er seine Frau hoch und trug sie ins Bett. Lara hörte, wie die Tür verriegelt wurde, dann gingen die Nachttischlampen an, das Licht an der Zimmerdecke aus. Schließlich legte er sich zu ihr, breitete die Decke über sie beide und streichelte über ihr Haar. „Was ist passiert?“

Lara schniefte nur noch hin und wieder. Sie kam sich ein wenig dumm vor, wegen eines Luftzugs so überreagiert zu haben. Sicher würde Markus sie auslachen, wenn er den Grund für ihren Zustand erfuhr. Aber es war mehr als nur das gewesen. „Da, da ist etwas durch mich hindurchgegangen“, brachte sie zögernd hervor. „Es hat geklopft und ich dachte das wärst du, aber vor der Tür stand niemand. Dann war da dieser Windstoß aus dem Zimmer heraus, einfach aus dem Nichts. Außerdem war da dieses unheimliche Stöhnen …“

Nach kurzem Schweigen küsste Markus sie zärtlich. „Willst du, dass wir gehen? Wenn du möchtest, packe ich ein paar Sachen und wir suchen uns ein Hotel.“

Seine Reaktion erleichterte sie. Was auch immer er von ihrer Geschichte halten mochte, er nahm sie ernst.

„Nein, ich will nicht aus dem Zimmer, solange es dunkel ist.“

„Und wenn du auf die Toilette musst? Ich kenne doch deine Blase und du hattest vorhin zwei Gläser Wasser und einen Becher Tee.“ Lara spürte, wie sich sein Mund zu einem Grinsen verzog. „Idiot!“, sie schlug ihm liebevoll mit der flachen Hand an die Brust.

„Keine Angst, ich würde dich natürlich ritterlich begleiten und dich mit meinem Leben beschützen.“

Lara drückte ihren Kopf gegen Markus Hals und sog seinen Duft in sich ein. Sie konnte kaum fassen, dass sie gestern noch an Trennung gedacht hatte.

„Wenn das hier wirklich ein Geist ist“, begann sie, als sie sich vollends beruhigt hatte, „wer könnte das sein? Haben hier viele Menschen gelebt?“

„Nein“, antwortete Markus prompt, „Meine Großeltern haben dieses Haus selbst gebaut.“

„Könnte es dein Großvater sein? Ich bin mir fast sicher, dass es ein Mann war, den ich auf der Treppe gesehen habe.“

„Du fragst mich, ob mein Opa uns heimsucht?“ Er seufzte. „Ich habe früher alle Ferien hier verbracht. Wir hatten ein gutes Verhältnis, bis er vor sieben Jahren starb. Warum sollte er jetzt, zwei Monate nach unserem Einzug, anfangen den Poltergeist zu spielen?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Lara, „Erzähl mir von ihm. Wie waren er und deine Oma?“

Markus strich sanft über ihren Nacken. „Sie waren sehr verliebt. Ich wollte immer einmal eine Ehe führen, wie die beiden es taten.“

Lara schluckte. „Also, ein perfektes Paar?“

Ihr Mann lachte leise. „Nein, ganz und gar nicht. Sie haben ständig diskutiert. Mein Großvater war ein Sturkopf, der immer glaubte, anderen seinen Willen aufzwingen zu müssen. Er war manchmal recht herrschsüchtig. Meine Oma war ein sehr liebevoller Mensch, aber wenn es um ihn ging, hat sie es gerne krachen lassen. Trotzdem hat er bis zu seinem eigenen Ende um sie getrauert – ganze zwölf Jahre lang. Wäre es nicht seltsam, wenn er dann nicht direkt zu ihr in den Himmel abgehauen wäre, statt hier herumzugeistern?“

Lara antwortete nicht sofort. Markus war ihr bisher immer zur Seite gestanden, egal wie zickig sie sich auch verhalten hatte. Geduldig ertrug er all ihre Launen und war stets zur Stelle, wenn sie ihn brauchte. Der Umzug in die Schweiz war sein einziger Wunsch in ihren fünf Ehejahren gewesen. Konnte es wirklich so schwer sein, dem Ganzen eine Chance zu geben? Wollte sie mit ihrer Sturheit alles aufs Spiel setzen? Was, wenn er nicht so standhaft war wie seine Großmutter und es irgendwann nicht mehr mit ihr aushielt?

„Ich liebe dich, Markus“, murmelte sie schließlich an seinen Hals und drückte sich noch fester an ihn.

„Das ist zwar nicht unbedingt eine Antwort auf meine Frage, aber ich bin bereit, darüber hinwegzusehen.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, Lara. Wir hatten hier in Aarau einfach einen schlechten Start. Ich will nicht, dass das unsere Beziehung zerstört. Wenn du dich mit dem Haus und der Umgebung also nicht anfreunden kannst, dann werde ich mit dir zurück nach München gehen.“

Lara wollte gerade verneinen und ihm versichern, dass sie endlich versuchen wollte, sich hier einzuleben, als es über ihnen rumpelte. Sie blickten erschrocken zur Decke. Da war das Geräusch schon wieder.

Markus setzte sich auf. „Das ist doch verrückt!“

Lara griff nach seiner Hand. „Vielleicht sollten wir nachsehen“, schlug sie vor. Ihre Stimme verriet Unsicherheit. „Wenn das dein Großvater ist, dann will er dir womöglich etwas zeigen.“

Ihr Mann sah sie lange an, dann nickte er. „Ja, du hast recht.“

Sie standen auf, wobei sie einander weiter festhielten. Als sie hinaustraten, war der Flur noch voll erleuchtet. Lara graute es vor dem Dachboden, doch sie folgte Markus ohne zu zögern. Er drückte ermutigend ihre Hand und öffnete dann die Tür.

Staub wirbelte auf. Lara musste ein Husten unterdrücken, dann deutete sie nach links. „Da drüben ist der Bereich, der über dem Schlafzimmer liegt.“

Markus nickte, betätigte den Lichtschalter, woraufhin sich eine klägliche Funzel an der Decke erhellte, und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, doch sie spürte, dass auch er nervös war. Vorsichtig liefen sie an vergilbten Schachteln und abgedeckten Möbeln vorbei. Das winzige Fenster an der Frontseite brachte kaum Helligkeit.

„Dieser Karton war vorhin noch nicht da“, bemerkte Markus plötzlich und deutete auf die entsprechende Kiste, die mitten im Raum stand. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und kniete sich dann hin, um den Deckel zu öffnen.

Unter einer Lage Zeitungen kamen gerahmte Bilder und Zettel zum Vorschein. Lara ließ Markus los und besah sich ein paar der Fotografien. Sie entdeckte Familienbilder, Aufnahmen von Feierlichkeiten und ein Hochzeitsportrait. Ihr Mann betrachtete derweil die Notizen. „Das sind Liebesbriefe“, erklärte er lächelnd, „Mein Opa hat sie überall im Haus verteilt wenn Oma wütend auf ihn war.“

„Vielleicht ist er deswegen noch da und hat nach unserem heftigen Streit gestern mit diesem Spuk begonnen“, überlegte Lara laut, „Er wusste, dass ich einen kleinen Denkanstoß brauche …“ Sie sah zu Markus auf. „Ich möchte hier mit dir in Aarau bleiben!“

Er lächelte sie erleichtert an. „Das freut mich.“

Lara warf noch einen Blick in die Kiste. „Glaubst du, er findet jetzt endlich Ruhe?“

Ein Windstoß fuhr durch den Dachboden, sodass das kleine Giebelfenster erzitterte und überall Staub herumflog. Dann war es vollkommen still.

Markus strich seiner Frau eine Fluse aus den Haaren. „Da bin ich mir sicher!“